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Janine Händel, seit fünf Jahren Chefin der Roger Federer Foundation, über falsche Entwicklungshilfe, voraussehbare Flüchtlingsströme und ihre Sicht auf die Armut.

Frau Händel, was ärgert Sie an der aktuellen Flüchtlingsdebatte am meisten? Welche Vorurteile da existieren über «die Leute, die da kommen». Dabei erkennt man einen Flüchtling nicht einfach so. Ich stamme selbst aus einer Flüchtlingsfamilie, meine Familie flüchtete im Zweiten Weltkrieg aus Pommern und wartete lange in einer Auffangstation in Hamburg, bevor sie eine Wohnung zugewiesen bekam.

War das Asylchaos denn voraussehbar?
Der Flüchtlingsstrom aus Syrien ist eine Folge unseres Handelns oder auch Nichthandelns und als solches zumindest für Experten voraussehbar. Die zivile Bevölkerung muss die Konsequenzen unserer Weltpolitik ausbaden. Und aufgrund unzureichender humanitärer Hilfe vor Ort fehlt den Syrern die Hoffnung, ja der Grund für einen Verbleib im Land. Wir sind nicht Opfer des Flüchtlingsstroms, wir sind die Akteure und hätten es in der Hand, den Lauf der Dinge zu ändern.

Unterscheiden Sie zwischen einem Kriegs- und einem Wirtschaftsflüchtling? Wenn es um den Asylstatus geht, selbstverständlich. Jemand, der bedroht ist, soll auf keinen Fall zurückmüssen. Aber ich habe auch absolutes Verständnis für jeden Wirtschaftsflüchtling, der sein Bündeli packt und sich eine bessere Zukunft proaktiv selber schafft. Negieren und Zurückschicken bringen nichts.

Warum?
Weil der Wirtschaftsflüchtling wiederkommt. Und ich finde, er hat das moralische Recht dazu. Wollen wir dem etwas entgegensetzen, müssen wir schauen, dass es in Afrika lebenswert genug ist. Auch das hätten wir in der Hand. Und zwar nicht mit Entwicklungshilfe, sondern mit der Förderung von Wirtschaft, Menschenrechten und Frieden.

Die Schweiz hat eine grosse Tradition in der Entwicklungshilfe. Hat diese Mitschuld an der Misere in Afrika?
Ich denke nicht. Aber die Tradition hat sicherlich dazu beigetragen, dass Afrika in erster Linie als Hilfsempfänger gesehen wird. Aber auch die Medien, die ein einseitiges Bild zeichnen. Dabei sollten wir das Investitionspotenzial in Afrika erkennen und unsere Produktionen auch dorthin verlagern. Es gibt in Afrika sogar stabilere Verhältnisse als in manchen asiatischen Staaten, die heute als Produktions­standorte beliebt sind. Jobs und damit eine Perspektive würden die Flüchtlingsströme minimieren.

China investiert stark in Afrika …
Ja, sehr. Sie sind aber leider die Einzigen. Dabei wäre Wettbewerb unter den Investoren dringend nötig, damit faire Preise und faire Standards eingeführt werden können.

Welche afrikanischen Staaten bieten sich als Produktions­standorte für Schweizer Unternehmen an?
Äthiopien zum Beispiel ist nur sechs Flugstunden von uns entfernt und liegt in derselben Zeitzone wie die Schweiz. Es gibt gute Universitäten und motivierte, ausgebildete Leute, aber fast keinen Arbeitsmarkt. Die Besten haben nur die Wahl, bei einer NGO oder bei der Regierung zu arbeiten. Wer von einer anderen beruflichen Zukunft träumt, dem bleibt nicht viel anderes übrig, als sein Glück anderswo zu suchen.

Stichwort Bildung. Dem hat sich die Roger Federer Foundation verschrieben, die Sie seit fünf Jahren leiten. Mit welchem Ansatz?
Ich komme aus der Friedensförderung. Dort lautet der Grundsatz: Du kannst keinen Frieden schaffen, wenn die Leute keinen Frieden wollen und ihn nicht leben. Also musst du zuerst die innere Haltung der Menschen verändern. Denselben Ansatz haben wir in der Foundation: Die Eltern müssen zuerst begreifen, dass ihre Kinder eine bessere Chance dank Bildung haben. Dann ist es relativ einfach, sie zu motivieren, ein Schulhaus zu bauen, Lehrer zu bezahlen, einen Kindergarten zu starten oder einen Garten anzupflanzen für Mahlzeiten in der Schule.

Sie fokussieren auf Kinder bis neun Jahre. Warum?
Man muss zuerst in einen gesunden Nährboden investieren, damit der Mais gut wächst und man ihn ernten kann. Die Bildungsförderung bei Kleinkindern ist ein weit unterfinanziertes Gebiet. Dabei ist durch Studien x-fach belegt, dass sich Frühbildung auszahlt.

Welcher Armut begegnen Sie vor Ort?
Was verstehen Sie genau unter Armut? Die allgemeine, ans Einkommen gekoppelte Definition greift hier zu kurz. Malawi beispielsweise gilt als dreizehntärmstes Land der Welt. Reist man dort herum, begegnet man Lebensumständen, die wir zwar als arm klassieren, die aber dennoch ein Leben in Würde erlauben. Bin ich hingegen in Bombay in gewissen Slums unterwegs, ist das eine Armut, die frappiert, da sie keine Menschenwürde mehr zulässt.

Volkswirtschaftlich wird Armut nun mal am Einkommen gemessen …
Ja, je weniger Einkommen, desto ärmer. Wir bewegen uns mit der Foundation aber in ruralen Gebieten und Gemeinschaften, die null Einkommen generieren. Sie sorgen einfach für sich selbst. Das sagt jedoch nichts über ihre Lebenswürde oder über ihre Zufriedenheit aus. Die Menschen, mit denen wir arbeiten, haben trotz ihrer «Armut» immer noch genügend Ressourcen, um sich zu helfen und weiterzuentwickeln.

Wie funktioniert die Arbeit vor Ort?
Unsere Unterstützung fliesst zu einem grossen Teil in die Löhne von lokalen Coaches und Mentoren, die in die Dörfer fahren und dort versuchen, das Denken und die Einstellung der Bewohner zu verändern. Wir möchten erreichen, dass diese Menschen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.

Anstatt?
Anstatt – wie leider stark verbreitet – lethargisch auf Hilfe warten. An dieser Haltung sind wir Entwicklungshelfer wesentlich mit beteiligt: Zu oft kam schon ein Lastwagen vorbei, der alte Kleider, Velos oder Lebensmittel geliefert und abgeladen hat.

Aber Entwicklungshilfe läuft seit Jahrzehnten genau so ab, oder?
Leider immer noch viel zu oft. Darum ist es eine Herausforderung, vor Ort gute Organisationen zu finden, die unseren Ansatz umsetzen. Es ist weit aufwendiger, die Leute zu mobilisieren, als einfach Waren abzuladen. Doch immer mehr NGOs erkennen glücklicherweise, dass mit reinen Hilfslieferungen keine nachhaltigen Veränderungen erzielt werden können. Und sie sind enorm motiviert, wenn sie sehen, was mit der Mobilisierung des Dorfes, in dem einst alle passiv waren, erreicht werden kann.

Erzählen Sie uns ein Beispiel.
Bei unseren Mahlzeitenprogrammen in den Schulen beginnen unsere Coaches immer mit grossen Dorfversammlungen und fragen nach dem eklatantesten Problem. Lautet die Antwort, dass die Kinder hungrig sind, fragen sie weiter: Warum füttert ihr während der Hungerperiode nicht einfach die Kleinsten? Und sagen: Wir helfen euch dabei, das zu organisieren. Wir schicken dann unsere Coaches, die mit den Dorfbewohnern am jeweiligen Anliegen arbeiten, dorthin. Ein paar Monate später, wenn wir wieder zu Besuch sind, wird oft schon die ganze Schule mit einer Mahlzeit versorgt, und zwar das ganze Jahr.

Diese Mentalitätswechsel stellt man sich nicht so einfach vor, wenn man bedenkt, dass das Dorf nebenan vielleicht gerade wieder eine Lieferung von mehreren Tonnen Mais bekommen hat …
Es braucht in der Tat Weitsicht, Einsicht, Leadership und Selbstverantwortung der Gemeinschaft. Das haben wir bislang immer erreicht. Und es ist toll zu sehen, wie stolz die Gemeinschaft auf sich ist, wenn sie etwas selber verändert hat. Schliesslich ist niemand gerne nur Hilfsempfänger. Nicht in der Schweiz und nicht in Afrika.

Bis 2018 sollen eine Million Kinder von der Roger Federer Foundation profitiert haben. Was ist Ihr Kernanliegen?
Wir hoffen, den Kindern wenigstens die Chance geben zu können, ihr Potenzial zu nutzen. Es geht darum, dass die Qualität der Grundbildung im Dorf so gut ist, dass die Kinder später mehrere Optionen im Leben haben. Wir wollen aber auch, dass die Gemeinschaft alle Kinder bis zum Abschluss in der Schule belässt. Auch die Mädchen. Sie sollten nicht mehr in der fünften Klasse verheiratet werden und von der Schule abgehen. Und die Teenagermütter sollten die Schule fortsetzen können.

Wie viel vom Geld, das Roger Federer, private Donatoren und die Credit Suisse in die Foundation einzahlen, kommt im Projekt an?
Über 90 % unsere Ausgaben fliessen direkt in unsere Projekte vor Ort, da wir ausschliesslich mit lokalen Organisationen direkt zusammenarbeiten. Wir sind zudem eine Förderstiftung, die nicht selbst die Projekte umsetzt. Auch haben wir keine Fundraisingkosten. Darum sind unsere Verwaltungsaufwände so tief.

Im November beginnt wieder die Spendenzeit. Wo ist das Geld von Spenderinnen und Spendern gut ausgegeben?
Ich rate dazu, sich mit ein paar Fragen auseinanderzusetzen, bevor man spendet. Was ist mir wichtig? Welches Thema? Welches Land? Welche Zielgruppe? Kennt man die Antworten, findet man im Internet eine Reihe von passenden Organisationen. Ein Gespür dafür, wie eine Organisation funktioniert, kriegt man bei der Ansicht des Jahresberichts. Schreibt die Organisation nur, wie viele Schulen sie gebaut, oder auch, was sie bewirkt hat? Es lohnt sich auch, die Ausgaben für Fundraising, Administration und Verwaltung einmal zusammenzurechnen, da kommt man teils auf horrende Beträge. Einer NGO, die keinen Finanzbericht auf der Website publiziert, würde ich kein Geld geben.

Gibt es Zertifizierungen, die mir als Spenderin eine gewisse Sicherheit geben? Zewo ist sicherlich das bekannteste Label. Doch sollte man wissen, dass Zewo nur darüber Auskunft gibt, wie eine Organisation geführt und verwaltet wird. Weit wichtigere Fragen wären: Was bewirkt eine Organisation? Und was hätte sie noch bewirken können? Das kann Zewo leider nicht abdecken, weil dafür Wirkungsanalysen in den Projekten auf der ganzen Welt nötig wären.

Es scheint mir immer schwieriger zu werden, bei den Hilfswerken die Übersicht zu behalten …
Stimmt. Immer mehr internationale Non-Profit-Organisationen eröffnen hier Geschäftsstellen, um Geld zu sammeln. Ich bin immer wieder überrascht, wie erfolgreich diese in kurzer Zeit hohe Spendeneinnahmen generieren,
obschon sie – vollkommen Zewo-konform und transparent –
meist mehr als 30 % der Einnahmen für Fundraising und Verwaltung in der Schweiz verwenden. Der Rest geht dann in der Regel an die Mutterorganisation im Ausland, welche ihrerseits Verwaltungskosten abzieht, bevor das Geld endlich in Projekte vor Ort fliesst.

Welche Spende ist denn die effizienteste?
Ich empfehle Spenden, die möglichst direkt und ohne Umwege ankommen. Zum Beispiel, wenn Sie Freunde oder Bekannte unterstützen, die beim Wandern im hintersten Tal Nepals eine Schule entdeckt haben, der sie jährlich Geld vorbeibringen.

Und wenn man keine solchen Freunde hat?
Ich rate, anstatt ständig zu wechseln und auf Medienechos zu reagieren, sich für eine Organisation zu entscheiden, die man dann längerfristig unterstützt.

Was halten Sie von der Glückskette, die bei Spendern sehr beliebt ist?
Die Glückskette hat ihre Daseinsberechtigung als sehr gut funktionierendes Mobilisierungstool bei Katastrophen. Würden alle Organisationen auf eigene Faust für die Flüchtlinge sammeln, käme weniger zusammen. Man muss sich einfach bewusst sein, dass nur eine beschränkte Anzahl von ausgewählten Hilfswerken von der Sammelaktion profitiert. Vielen NGOs ist der Zugang zu diesen Mitteln verwehrt, obschon sie gute Arbeit leisten und sich Problemen widmen, die in den Medien weniger Beachtung finden.

Frau Händel, nach Ihrem Studium der Rechtswissenschaften sind Sie für acht Jahre in den diplomatischen Dienst gegangen. Warum sind Sie nicht länger Diplomatin geblieben?
Das Humanitäre ist meine Berufung, nicht die Diplomatie. Ich wollte Di­plomatin werden, um die humanitäre Schweiz in Krisengebieten zu vertreten. Mein Mann hätte aber dort, wo es für mich spannend geworden wäre, keine Arbeitsmöglichkeit gehabt. Daher habe ich zwar den Arbeitgeber gewechselt, jedoch nicht den Inhalt meiner Arbeit.

Was sind Sie heute vor allem? Geschäftsführerin, Diplomatin oder Juristin?
Dass ich im sozialen Bereich gelandet bin, war bereits als Kind mein Ziel. Mein erster Berufswunsch war Sonderpädagogin. Nach der Matur ging ich als Reiseleiterin nach türkisch Zypern und erlebte zum ersten Mal geschlossene Grenzen. Als ich zurückkam, stand für mich fest: Ich werde Diplomatin. Heute lege ich grossen Wert darauf, die unternehmerischen und juristischen Aspekte einfliessen zu lassen, die besten Standards zu erfüllen, damit wir so viel wir möglich sozial bewirken können. Da kommt also auch die Juristin in mir hervor.

Was passiert mit den eigenen Werten, wenn man jeden zweiten Monat in den ärmsten Ländern der Welt unterwegs ist?
Meine vielen Reisen haben mich gelehrt, genauer hinzuschauen. Werte erscheinen auf den ersten Blick oft ganz anders, als sie wirklich sind. Das ist mit der Armut dasselbe.

Erschienen in WOMEN IN BUSINESS im November 2015.
Hier geht’s zum PDF WiB_15_11_14-21

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Immer mehr Unternehmen setzen bei der Rekrutierung auf Persönlichkeitstests. Was wir darin preisgeben, was beim Ausfüllen in unseren Köpfen vorgeht und wie wir mit dem Resultat am besten umgehen.

Entdecken Sie Ihren Beziehungstyp! Finden Sie heraus, welches Reiseland am besten zu Ihnen passt! Nach diesem Test wissen Sie, in welchem Wohnstil Sie sich am wohlsten fühlen … Drei Tests, alle aufgeschnappt bei der Magazin-Lektüre in der Sommerbadi. Spätestens seit dem Bestseller «Wer bin ich und wenn ja, wie viele?» sind wir ganz offensichtlich im Modus der Selbstentschlüsselung. Aus jedem Heft winkt uns ein Persönlichkeitstest. Als wüssten wir ohne gar nicht, wer wir eigentlich sind.

«Die Seele ist nicht vermessbar», sagt der Zürcher Psychiater, Psychotherapeut und Psychoanalytiker Mario Gmür. Er hat die Büroklammern, die seine Patienten während des Gesprächs mit ihm beiläufig in der Praxis verbogen haben, fotografieren lassen. Entstanden ist zuerst eine Ausstellung und nun auch ein Buch «Büroklammern verbiegen» erschienen im Verlag Kein & Aber. Für jeden verbogenen Draht gibts in seinem Buch einen Typenbeschrieb. Gmür sieht dies als ironischen Blick auf den Vermessungswahn des Menschen.

Unsere Seelen: Nicht vermessbar? Das sehen Arbeitgeber ganz offensichtlich anders. 80 Prozent der deutschen Unternehmen setzen gemäss einer Erhebung der Universität Bochum inzwischen auf Persönlichkeitstests – Tendenz steigend. In der deutschsprachigen Schweiz waren es gemäss einer Studie der Universität Zürich im Jahr 2010 immerhin schon 32 Prozent.

Dass wer wir vorgeben zu sein, nicht immer ist, was wir sind, tja, daran leiden Unternehmen schon, seit sie Jobs anbieten. Wer wird heute noch wegen fachlicher Mängel gefeuert? Meist ist es die Persönlichkeit, die einfach nicht ins Gefüge passt. Um unsere Verbiegerei für einen möglichen Job zu entlarven, gibt es unzählige Psychotests. «Der Markt mit Persönlichkeitstests ist recht überbordend», sagt Dr. Pia Ingold, Arbeits- und Organisationspsychologin der Universität Zürich. Manche Tests halten wissenschaftlichen Ansprüchen stand, andere sind aber nicht seriöser als Horoskope. Spannend: Viele stützen sich auf Methoden von Schweizer Psychiatern, lehnen sich an schillernde Namen wie Carl Gustav Jung, Hermann Rorschach  …

Warum testen wir uns nicht selbst?

Ehrgeizling? Fähnchen im Wind? Oder ein Duckmäuser? Unsere potenziellen Arbeitgeber kennen uns nach einem solchen Test unter Umständen besser als wir uns selbst. Dafür müssen wir uns auch Fragen gefallen lassen wie: «Gehen Sie gerne auf Partys?» oder «Essen Sie gerne fremde Speisen?». Bevor wir uns vor der HR-Abteilung dermassen entblössen: Warum fühlen wir uns nicht mal selbst mal auf den Zahn? Und zwar so richtig? Und nicht bloss in der Frage nach Ferien-, Wohn- oder Schlaftyp? Laut HR-Psychologe Matthias A. Schneider brauchen die allermeisten von uns zuerst eine intensive Auseinandersetzung mit sich selbst, um von sich aus einen Persönlichkeitstest zu machen. Eine Krise. In seiner Sprechstunde erlebt der Fachmann Dreissigjährige, die sich fragen, ob der Job, den sie nach ihrem HSG-Studium angenommen haben, zu ihnen passt. Und Mittfünfziger auf der Suche nach mehr beruflicher Erfüllung. «Die meisten kommen also, wenn sie an die Wand fahren. Ich hätte sie lieber vorher.»

Erkenne dich selbst – «Gnothi seauton» – heisst es seit dem Altertum. Hippokrates unterschied noch vier Temperamente: den Choleriker, den Melancholiker, den Sanguiniker und den Phlegmatiker. Persönlichkeitstests, wie wir sie heute kennen, wurden erst im zwanzigsten Jahrhundert entwickelt. Angefangen bei der US-Army: Sie musterte mit einem Test während des Ersten Weltkriegs Soldaten aus, die am anfälligsten auf einen Schützengrabenschock schienen. Seit den 1980er-Jahren spricht man von den Big Five: Neurotizismus, Extraversion, Offenheit für Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit und Verträglichkeit. Gemessen wird in Tests also, wie stabil oder fragil, wie reserviert oder gesellig, wie vorsichtig oder neugierig, wie nachlässig oder organisiert und wie kompetitiv oder kooperativ wir sind. Was ist denn gefragt auf dem Arbeitsmarkt? Was für eine Persönlichkeit hat der ideale Arbeitnehmer? «Menschen mit ausgeprägter Gewissenhaftigkeit und emotionaler Stabilität zeigen höhere Leistung, das gilt für alle Berufe», sagt Pia Ingold wenig überraschend. Die Gewissenhaftigkeit stehe im Vordergrund, seit die Forschung zur Persönlichkeit in den 90er-Jahren in Schwung gekommen sei. Ehrlichkeit und Bescheidenheit heissen die neuen Tugenden, die aus den Big Five plötzlich die Big Six machen. Ingold erklärt: «Im digitalen Zeitalter, in dem Informationen blitzschnell im Web zirkulieren, sind vertrauenswürdige Mitarbeiter mit Bodenhaftung eine Ressource für Arbeitgeber.»

Die Schönfärberei des eigenen Ichs

Egal ob der mögliche künftige Arbeitgeber einen testet, oder ob man sich auf eigene Rechnung testen lässt: Es geht um eine Selbsteinschätzung. Bei der Auswertung werden alle Antworten zu Skalen zusammengefasst. Daraus wird ersichtlich, wie stark jemand vom Durchschnitt abweicht. Die Testperson erfährt, was ihre Treiber sind, wie sie tendenziell entscheidet und reagiert. Aber Achtung: Ein Test bleibt eine Momentaufnahme. Ob jemand im Bewerbungsprozess wirklich ehrlich ist, sei daher nur nachvollziehbar, wenn man dieselbe Person denselben Test zudem ausserhalb einer Bewerbungs­situation ausfüllen lasse, sagt Pia Ingold. Zudem seien gewisse Abweichungen völlig normal: «Mal ehrlich: Wer im Bewerbungsverfahren nicht das Bedürfnis hat, sich gut darzustellen, der versteht die Anforderungen der Situation vielleicht nicht richtig, oder?»

Verbiegen gehört einfach dazu

Eine aktuelle Studie der Universität Zürich zeigt sogar auf, dass Personen, die ihre Werte beim Ausfüllen eines Persönlichkeitstests stärker verändern, in ihrer Tätigkeit höhere berufliche Leistungen zeigen. Dies kann daran liegen, dass Personen in der Bewerbungssituation und im Job erkennen, was für ein Verhalten gerade gefragt ist. Wie einfach ist es denn, sich für einen Job zu verbiegen? Einfacher als landläufig gedacht. Wiederholte Fragen in einem Test, sogenannte Konsistenzfragen, sollen Testpersonen überführen, die sich anders darstellen, als sie sind. Pia Ingold tut dies als «Irrglaube» ab, der gerne aufrechterhalten wird. «Die gesamte Forschung stützt dies nicht.» Ein Persönlichkeitstest im Bewerbungsprozess löst Stress aus. Was geht den Getesteten durch den Kopf, während sie sich in Dutzende Situationen hineindenken und Auskunft darüber geben, wie sie sich wann verhalten würden? Eine Studie der Universität des Saarlandes und der Universität Zürich zeigt, wie die brennenden Fragen lauten: Gibts hier Fallstricke? Wollen die prüfen, ob ich mich konsistent verhalte? Wollen die mich ausquetschen? Besonders, wenn sich die ersten Fragen zu wiederholen scheinen, steigt das ungute Gefühl auf. Pia Ingold erklärt, dass es zur Messung des Leistungsstrebens nun mal einfach mehr als eine Frage brauche. Sie werde einfach unterschiedlich gestellt. «Aber es ist nichts Gemeines dabei.»

Viele Tests liefern die Resultate in Diagrammen. Daraus alles zu lesen, ist für den Laien schier unmöglich. HR-Profi Matthias A. Schneider empfiehlt darum ein Abschlussgespräch, damit sich die Investition, wenn man selbst einen Test machen lässt, auch wirklich lohnt. Seine Erfahrung daraus: «Wer gut abschliesst, ist unkritisch. Wer schlecht abschneidet, stellt gerne zuerst einmal den Test infrage. Was sinnlos ist, denn der Test basiert auf jahrzehntelangen Erfahrungswerten.» Im Gespräch ermuntere er seine Kundinnen und Kunden dazu, sich mit ihren erfahrenen Stärken zu positionieren. «Sie können sich nicht vorstellen, wie viele sofort zurückfragen: ‹Ja, aber darf ich so was von mir sagen?› », sagt er. Sich selbst hochzujubeln ist wenig verbreitet, in der Schweiz sowieso. Für Schneider ist klar: «Wenn ich meine Schwächen nicht kenne, laufe ich immer in dieselben Muster.» Sein Beispiel: «Sie sind jemand mit hoher Prestigewertung in der Dominanz. Jetzt gehen Sie heute Abend an einen Event und werden nicht vorgestellt vor Ihrem Auftritt. Sie werden so enttäuscht sei, dass es Ihnen den ganzen Abend vermiest. Kennen Sie diesen eigenen Treiber hingegen, werden Sie zuerst abklären lassen, wie der Ablauf des Abends ist und ob Sie vorgestellt werden. Und Sie werden einen glänzenden Abend haben. Oder vorher absagen.»

Was das Essverhalten aussagt

Es gibt praktisch nichts, was die Arbeitgeber anhand der Tests über uns nicht herausfinden können. «Wenn Sie gerne fremde Speisen essen, gelten Sie als offen für neue Erfahrungen», sagt Pia Ingold. Die Testfragen sind teilweise so alt wie die Tests selbst – und Interpretationen offensichtlich lapidar. Dass Fragen zum Ess- oder Feierverhalten zunehmend ersetzt werden durch Fragen, die einen tatsächlichen Arbeits- und insbesondere Stellenbezug haben, stimmt sie positiv: «Dies geschieht unter anderem auch, weil es in den USA sonst zu Klagen kommen könnte, wenn zu stark in die Privatsphäre vorgedrungen wird und kein Bezug zu den Anforderungen des Jobs besteht.» Dort darf der Kandidat bei der Bewerbung ja nicht einmal nach seinem Alter gefragt werden.

Wann macht denn der Persönlichkeitstest aus Eigeninitiative am meisten Sinn? Eine Altersbarriere für Psychotests gebe es nicht, sagt Matthias A. Schneider. «Im Charakter ändert sich nichts. Wer stark auf Stimulanz reagiert, wird das auch noch im Pensionsalter tun. Das Profil verändert sich höchstens bei Krisen, Depressionen oder schweren Krankheiten.» Darum sieht er bereits in der Laufbahnplanung ein riesiges Potenzial für Psychotests. Wieso nicht schon beim Studien- und Berufseinstieg die Karriere nach dem emotionalen Bild ausrichten, fragt er und fügt an: «Wer sich kennt, ist glücklicher. Erst mit 40 Jahren herauszufinden, was man besonders gut kann, wäre doch schade, nicht?»

Perfect Match für das Unternehmen

Fakt ist: Wir werden mit unseren Charaktermerkmalen also immer transparenter für unsere Chefinnen und Chefs. Und um Fragen wie «Wie verhalten Sie sich, wenn x passiert und y nicht einspringen kann?» kommen wir sowieso nicht mehr herum. Werden sie nicht im Persönlichkeitstest gestellt, tauchen sie gemäss Pia Ingold immer häufiger auch bei den Bewerbungsgesprächen auf. Und im Interview ist Schummeln noch schwieriger als beim Ankreuzen von Multiple-Choice-Tests. Die Expertin sagt klar: «Wer sich vollkommen anders gibt, als er ist, schneidet sich ins eigene Fleisch. Nach ein paar Arbeitstagen fliegt jede und jeder auf.» Wer im eigenen Interesse ehrlich ist, kann dafür mit einem guten Gefühl in den neuen Job starten. Persönlichkeitstests haben ja den Vorteil, dass man mal mindestens in den Augen des Arbeitgebers passt.

Erschienen in der September-Ausgabe 2015 von WOMEN IN BUSINESS
Hier gibts die Geschichte als PDF WiB_15_9_16-23

«Azönde!» wollte man es. MARCO FRITSCHE jedoch verliebte sich in das steinalte Appenzeller Haus. Der Moderator kaufte, renovierte, verlor beinahe die Geduld. Jetzt ist sein Paradies fertig.

Sie hatte einen Hund. «Einen von der Sorte, wo man nicht sieht, was vorne und was hinten ist.» Und im Keller verkaufte sie Tabakwaren. Marco Fritsche, 37, hat nur noch ein vages Bild von Frau Enzler im Kopf. «Ich war zu jung, und geraucht habe ich sowieso nicht.»

Der Moderator («Bauer, ledig, sucht …») hat das Haus mit dem Tabaklädeli an der Schäfligass in Appenzell vor zwei Jahren gekauft. Oder zumindest das, was davon übrig geblieben war. Nachdem Frau Enzler das Zeitliche gesegnet hatte, stand es leer. Fritsche ahnte bei der Besichtigung, was ihn erwartet: Vom Buchladen nebenan hatte er oft auf die fauligen Schindeln geschaut. Drinnen traf ihn dennoch schier der Schlag: «Komplett vertschätteret. Im Parterre hatte sich eine Band eingenistet. Da und dort schimmlige Bierflaschen.»

«Baujahr 1689», so schätzt ein baugeschichtliches Gutachten anhand von Holzproben. Einst eine Gerberei. 250 Jahre später kaufte Frau Enzler das Haus für «um 27 000 Franken». Fritsche ist fasziniert, was er alles über sein Haus in Erfahrung bringt. Über den Preis, den er bezahlte, schweigt er sich aus. Reingesteckt habe er rund eine Million Franken. «Ein altes Haus zu haben, das mein neues ist – dieser Gedanke gefiel mir schon länger.» Ein Freund und Sachverständiger hatte für ihn zwei, drei Häuser angeschaut. Aber aus diesem hier, so meinte Schreiner Schildknecht, könne man viel machen. Fritsche schlug zu: Mit dem Versprechen, innerhalb eines halben Jahres mit der Renovation zu beginnen und die historische Substanz zu erhalten. «‹Spinnt denn dä? Azönde, abropfe – oder e Schöpfli geh, da keit sowieso zemä›, hiess es im Dorf.» Das habe er «höne omi» schon erfahren, erzählt er lachend…

Hier gibts die Geschichte als PDF Marco Fritsche

Am Samstag gewann er den Weltcup-Final in Arosa. IOURI PODLADTCHIKOV ist einer der besten Snowboarder der Welt. Der Schweizer verdient damit unverschämt viel Geld. Er braucht es auch: «Mein Porsche. Mein Haus. Meine Elena.»

Münz, Visitenkarten, Schokoladeriegel, Mobiltelefon, Sticker: Iouri Podladtchikov, 22, schüttet den Inhalt seiner Hosen- und Jackentaschen auf die Fussmatte. «Scheisse, wo habe ich nur diesen Schlüssel?» Er guckt die Fassade seines dreistöckigen Hauses in Zürich Wollishofen hoch. Kein Fenster offen zum Einsteigen. Er geht zum Parkplatz zurück und öffnet die Beifahrertür seines schwarzen Porsche 911 Targa 4S: «Lass uns zu meinem Bruder fahren!»

Der Snowboardprofi kommt direkt aus München – der Auftritt für einen neuen Sponsor und eine durchzechte Nacht liegen hinter ihm. Geldverdienen und Party machen muss ihn keiner lehren. Im Januar schloss er neue Sponsorenverträge über vier Jahre ab. Das Sportlabel Quiksilver bringt eine Kollektion mit seinem Namen heraus – ein Ritterschlag in der Szene. «In Russland würde ich verraten, wie viel Geld ich mache», sagt der gebürtige Moskauer.

1996 zog Familie Podladtchikov in die Schweiz – der Vater ist Professor für Geophysik an der ETH. Er würde Sohn Iouri noch immer gerne als Studenten sehen, aber der springt lieber in der Halfpipe, als im Hörsaal zu sitzen. Diese Saison beweist er erneut, dass er als Einziger dem Allerbesten das Wasser reichen kann: dem US-Amerikaner Shaun White. Seinen Double McTwist 1260, den Trick mit zwei Überschlägen und dreieinhalb Drehungen, schafft neben ihm nur Podladtchikov.

Die Erfolge schenken ein, seine Mutter managt sein Konto. «Mehr als 17 000 Franken kann ich im Monat nicht ausgeben», erklärt er die Regeln seiner Mutter. Und fragt sich: Wäre ein Treuhänder vielleicht grosszügiger mit ihm?

Auf der Fahrt im Porsche 911 Targa 4S Richtung Innenstadt. «Igor, wo bist du? Ich brauche deinen Schlüssel. Auf dem Weg nach Bern? Scheisse. Können wir dich am HB abfangen?» Er drückt auf die Tube. Für Autos gibt er gerne Geld aus, für Essen auch. So viel unterwegs zu sein, bedeutet oft Fast Food. Iouri muss schauen, dass er überhaupt regelmässig und genug isst – deshalb kauft er sich für zu Hause keine Budget-Pasta, sondern Kaviar. «Die reichste Nahrung überhaupt», schwärmt er, «und das purste Geldgenussgefühl, das ich kenne.» Den Kaviar ersteht Podladtchikov im Caviar House am Flughafen, samt Rosenwodka. Der Zaren-Shot, die Kombination von 10 Gramm Fischeiern und 2 Zentiliter Feuerwasser – darauf schwört er.

Zürich Hauptbahnhof: Ein Parkfeld steht frei für den Porsche. Podladtchikov füttert die Parkuhr, übersieht die Glotzer auf dem Trottoir, stellt sich vor den Kiosk und wartet. «Da ist Igor. Hi, Bruder, alles klar? Wir brauchen deinen Schlüssel. Homestory ohne Schlüssel – ist ein bisschen blöd.» Igor, der grosse Bruder, lächelt, schüttelt den Kopf, löst seinen Hausschlüssel aus dem Bund und sagt: «Leg ihn mir ja unter die Fussmatte, sonst komme ich heute Abend nicht rein. Gell!» Iouri Podladtchikov sitzt jetzt entspannter im beigen Ledersitz seines Porsche. Man könnte die Gunst der Stunde nützen und über Frauen reden, ja man sollte, denn der junge Mann lässt die Mädchenherzen weltweit höherschlagen. «Ich habe sehr gerne offene Zuneigung – wenn sie denn von Herzen kommt», sagt er und weicht der Frage aus, wie viele Freundinnen er schon gehabt hat. Er fotografiert gerne, am liebsten sich und seine Freunde. Die Fotos sind Bildbeweise dafür, mit wie vielen bildschönen Frauen sich der Snowboardprofi umgibt. Elena ist fast auf jedem Bild zu sehen. «Elena und ich versuchen es schon lange. Ich würde sagen, seit Weihnachten sind wir beide für eine Beziehung. Zuvor war sie nicht so dafür.» Kennen gelernt haben sie sich in Athen im Ausgang. Elena ist halb Griechin und halb Spanierin, sie studiert in London Schauspiel. Eigentlich sehen sie sich zu wenig. Aber Elena inspiriere ihn und mache aus ihm einen besseren Menschen. Er fliegt ständig nach London und sagt sich, er habe schon für Dümmeres Geld ausgegeben. «Ich bin ein Kämpfer, kein Lover. Bedeutungsloser Sex bringt mich je länger, je mehr zum Heulen.»

Podladtchikov schliesst die Tür zum 622-jährigen Haus am See auf. Hier wohnt er seit November mit seinem Bruder zur Miete. Zaren-Shot oder Kaffee? Am Küchentisch träumt er immer öfter von einem schönen Haus, gefüllt mit Glück, Frau und Kindern. «Familie möchte ich möglichst bald. Nur bei Elena ist das noch nicht so ein Thema», sagt er. Bruder Igor, 26, hat gerade geheiratet und wandert mit seiner Frau Sarah nach Denver (USA) aus, um dort Computer zu programmieren. Das Haus leert sich, und Podladtchikov fragt sich, wer künftig die Milch kauft oder einen Schlüssel hat, wenn er seinen verliert.

Der Uhrenkönig ist nun auch Hotelier im Reich der Mitte. Künstler wohnen im Swatch Art Peace Hotel gratis. Als Mäzen versteht sich NICK HAYEK aber nicht. «Wir treiben die Kultur meines Vaters weiter.»

Nanjing Road, Schanghai. Keine 200 Meter von der neuen Omega-Boutique entfernt. «Omedscha. Lolex. Lado. You want shopping?» Eine junge Chinesin verkauft auf dem Trottoir Uhren. Fälschungen. Vor ihr ist auch der Schweizer Uhrenkönig nicht gefeit. Und was tut er, wenn ihm eine «Omedscha» angeboten wird? «Ich zeige den Strassenhändlern meine Swatch. Und frage sie so lange: ‹You want a Swatch? Swatch?›, bis sie flüchten.»

Am Bund, der Prachtstrasse, die die neue von der alten Stadt trennt, präsentiert Nick Hayek, 57, seinen neusten Wurf. Zwischen dem «Peninsula», dem «Hyatt» und dem «Waldorf Astoria» thront das Swatch Art Peace Hotel. Als er 2005 hier mit seinem Team vorbeiging, hatte sich an der Fassade bereits ein französischer Luxuskonzern angekündigt. Hayek war auf der Suche nach neuen Geschäftslokalitäten. Die beste Lage, so schien ihm, hatte sich gerade dieser Handtaschenproduzent geschnappt. Er wurde hässig und fragte seine Leute: «Wir waren die Ersten in China, wir sind Pioniere. Weshalb waren wir nicht schnell genug?»

Sein Vater Nicolas G. Hayek gründete in den 80er-Jahren ein Stahlwerk in China. Der Patron erkannte früh, zu welcher Dynamik dieses Land fähig ist. Und welcher Absatzmarkt es mit den 1,3 Milliarden Einwohnern eines Tages für seine Uhren werden kann. Heute ist die Swatch Group Marktführerin in China. Nick Hayek hat sich den Respekt bewahrt, den sein Vater hier genoss. Was ist die grösste Ehrerbietung im chinesischen Geschäftsleben? «Authentisch sein, Emotionen zeigen, und ab und zu ist es nützlich, trinkfest zu sein.»

Das Konzept, der Name Hayek, die Marke Swatch und die Schweiz: Im Kampf um das ehrwürdige Gebäude spielten verschiedene Faktoren eine Rolle. «Aber ganz sicher nicht Geschenke spezieller Art wie Uhren zum Beispiel», betont Hayek. Die Funktionäre seien von seinem Konzept begeistert gewesen. Und so hatten die Franzosen, die den Chinesen so steif vorkamen, plötzlich das Nachsehen. Hayek, der nie Krawatte trägt, ist ihnen lieber.

Am Dienstag vergangener Woche eröffnet Nick Hayek das Swatch Art Peace Hotel. Von der Familie ist einzig Hollywood-Star Salma Hayek da. Tatsächlich verbinden sie gemeinsame Wurzeln im Libanon – weit entfernt zwar, aber sie sei seine Cousine. Sein Vater kann diesen Moment nicht mehr miterleben, er starb am 28. Juni 2010 im Alter von 82 Jahren. «Ich vermisse ihn. Wie gern hätte ich, dass er das hier sieht! Er hätte eine Malerschürze angezogen und gleich zusammen mit Ted Scapa gemalt.»

Der Neo-Hotelier führt in T-Shirt und Turnschuhen durchs Haus. Enthusiastisch, hastig, etwas atemlos. 1909 Gründungsort der Internationalen Opiumkommission, im Zweiten Weltkrieg von der japanischen Armee besetzt, ist das älteste Hotel von Schanghai heute ein Hort der Kreativität. Über den Boutiquen von Omega, Breguet, Blancpain und Swatch sind zwei Stockwerke für 18 Künstler reserviert. Die Swatch Gruppe bezahlt Reise und Aufenthalt. Nick Hayek erwartet einzig, dass jeder am Ende der sechs Monate eine Spur hinterlässt. «Wenn einer Lust hat, auf dem Toilettenpapier zu schreiben ‹it was nice›, dann ist das okay.»

Hayek der Mäzen? «Nein, es geht einfach um Kreativität, das ist ein echter Wert. Ich bekomme also etwas zurück.» Eine Kommission entscheidet, wer einziehen darf. Bereits eingenistet haben sich der Schweizer Komponist Andrea Lorenzo Scartazzini, der französische Soundkünstler Alexandre Joly und der deutsche Zeichner Franz Burkhardt. «Das Zusammenleben mit den anderen Künstlern, die Vibes dieser Stadt: Ich bin noch nie auf so eine grosse Inspirationsquelle gestossen», sagt die texanische Malerin Kathryn Gohmert. Nationalität und Kunstform spielen keine Rolle – ob Riesentalent, Kitsch oder Quatsch, von Kunstkritikern will sich die Kommission nicht beeinflussen lassen. «‹Bewahre die Fantasie deiner Kindheit›, hat mein Vater immer gesagt. Das Bauchgefühl geht vor. Ich masse mir nicht an, zu beurteilen, wer ein Künstler ist und wer nicht.» Grosszügig will Gastgeber Hayek das Konzept nicht nennen. Lieber grossartig. Swatch und Kunst, das ist für ihn eine Verbindung: die Swatch, die Leinwand am Handgelenk. Die Kunst, die zu den Massen findet – auf der Strasse.

Hayek, der Unternehmer? Hayek versteht sich als Künstler. Das Hotel ist aber auch ein cleverer Schachzug eines Mannes, der in grosse Fussstapfen getreten ist. Die Geschäftslage ist unvergleichlich. Und das Hotel eine Botschaft an die Chinesen: Swatch ist keine Modeuhr, keine Plastikuhr «made in China», sondern ein internationaler Design-, Kunst- und Kulturwert «Swiss made».

5000 Arbeiter haben das verlotterte Hotel auf Vordermann gebracht. Zuerst ausgehöhlt und dann so aufgebaut, wie es der Denkmalschutz vorschrieb. Hayek erlebte so einiges: «Da kommst du auf die Baustelle, und die Rohre sind aus Karton!» Was er sich in zwei Jahren erhoffte, kam in vier Jahren zustande. Seiner Faszination für Land und Leute tat das keinen Abbruch. Würde er auswandern, dann nach China. «Die Leute auf der Strasse schauen einen offen an. Mir gefällt ihr Hunger, etwas zu lernen, und ihre Herzlichkeit, die es nicht einfach auf ein Trinkgeld abgesehen hat.»

Als Nick Hayek damals aus China zurückkam und dem Vater von diesem Hotel erzählte, «da war er voll mit dabei». «Seine und unsere Kultur war immer ‹Sein statt Schein›. Das heisst, er war stets auf der Suche nach Substanz und echten Werten und wollte dabei Spass haben. Das Hotelkonzept passt 100 Prozent zu seiner Philosophie. Und wir treiben seine Kultur noch weiter.»

Nicolas G. Hayek holte seinen Sohn vor über zehn Jahren in die Firma. Der Künstler gab für die Uhren den Film auf. «Ich möchte noch immer Filme machen. Spielfilme oder einen Dokumentarfilm über das Swatch Art Peace Hotel. Aber ich komme nicht dazu.» Die Produktion in der Schweiz muss laufend optimiert werden, um die Nachfrage zu decken. Dieses Jahr wird mit einem Rekordergebnis enden. 2000 neue Stellen hat die Swatch Gruppe weltweit geschaffen. Mit dem Erfolg wachsen auch die Überraschungen: Die chinesische Polizei beschlagnahmt jede Woche Tausende gefälschte Uhren. Vor zwei Wochen entdeckte einer von Hayeks Spezialisten einen neuen Verkaufstrick der Fälschermafia: «Er zeigte mir zwei Tissots aus einem chinesischen Laden. Die eine klar eine Fälschung, die andere als Original deklariert. Aber wissen Sie was: Auch die zum Originalpreis war nicht echt!»

Die Märli-Königin hat sich in ihren «Palast» zurückgezogen. Für uns öffnet TRUDI GERSTER noch einmal die Pforten. Ihr grösster Wunsch: «Ich möchte meinem Urenkel eine Geschichte erzählen.»

Sie nestelt am Kragen ihres Seidenumhangs. Dann hebt sie den Kopf und sagt: «Es ist wunderbar. Alles wunderbar.» Die Märchenkönigin sitzt in ihrem Lieblingssessel in der Basler Stadtwohnung, in der sie mittlerweile 43 Jahre lebt. Seit diesem Sommer verlässt sie das Haus nicht mehr alleine. Interviews gibt sie nur noch sehr selten. Aber zum Kaffee, sagt sie am Telefon, dürfen wir noch kommen. «Zum Kaffee – Tee ist was für alte Leute.» Vor Kurzem feierte sie ihren 92. Geburtstag.

Sie schaut sich von ihrem Sessel aus um. Tochter Esther Jenny-Keshava serviert den Kaffee. Drei bis vier Stunden unterstützt sie ihre Mutter täglich. Bevor sie geht, liest sie ihr, zum Dessert, immer vor. Denn auf ihre geliebte Meringue-Glace sollte Trudi wegen ihrer Diabetes eigentlich verzichten.

Mit ihren Fingerkuppen fährt Trudi Gerster über die Goldstickerei ihres Umhangs. «Wunderbar.» Sie legt das Kinn auf die Brust und sagt noch einmal: «Wunderbar.» Ihre Augendeckel werden schwer. «Frau Gerster, möchten Sie vielleicht lieber Mittagsschlaf machen als Kaffee trinken?» Leicht empört guckt sie unter ihren Stirnfransen hervor. Und gibt dem Fotografen Anweisungen, aus welcher Perspektive sie die Bilder gerne hätte. «Mein Prix Walo muss darauf zu sehen sein!»…

Hier gibts die ganze Geschichte aus der SI als PDF Trudi Gerster

Eine Hofmaschine riss ihm beide Arme ab. Zehn Jahre nach der Rega-Rettung hat Bauer WISI ZGRAGGEN sein Leben wieder im Griff. Und sich den fatalen Fehler verziehen.

Spielt Familie Zgraggen Uno, legt Ivan, 6, immer zwei Karten. Zuerst eine eigene, dann eine vom Vater. Der Junge legt eine gelbe Sieben. Dann guckt er in Vaters Karten. An jedem anderen Familientisch wäre das «bschisse». Bei Zgraggens aus Erstfeld UR ist das normal. Vater Wisi, 35, zeigt auf die grüne Sieben, die im Doppelmeter vor ihm eingesteckt ist. Er tut das nicht mit dem Finger, sondern mit dem Armstumpf.

Das Adrenalin hielt ihn damals wach. «Ich war 200 Prozent bei Verstand.» Wisi Zgraggen verlor kaum Blut, der Schock überspielte den Schmerz. «Vater, wir müssen die Kühe verkaufen. Ich werde nie mehr melken können», sagt er.

Dann schickte er ihn zur Maschine zurück. Bis zur Ankunft der Rega sollte er seinen linken Arm finden.

Manchmal sind Hände und Arme plötzlich wieder da. «Bei Wetterwechsel spielen die Nervenzellen im Hirn verrückt.» Dann spürt Wisi zuerst ein Kribbeln, dann Schmerzen. Das kann die Hölle sein. Tagsüber lenkt ihn die Arbeit auf seinem Bauernhof davon ab. Nachts merkt Angelika, wenn die Phantomschmerzen ihren Mann wieder plagen: «Dann zuckt er.» Wisi Zgraggen ist keiner, der jammert. Und auch keiner, der hadert. In das tiefe schwarze Loch, vor dem man ihn in der Reha warnte, ist er nie gefallen.

Noch bevor das Blinken die Rega am Horizont ankündigte, bat Wisi Zgraggen seinen Vater, Angelikas Nummer zu wählen. Und ihm das Handy ans Ohr zu halten. Er erklärte seiner Frau, was passiert war. Sagte ihr: «Du musst dich nicht ängstigen.» In seiner Stimme war kein Zittern. Er wollte nicht, dass sie, die ihr zweites Kind im Bauch trug, ihn so sieht. Die Besinnung verlor er erst, nachdem ihn die Rega-Retter auf die Bahre gelegt hatten.

Thomas, 10, gewinnt diese Partie Uno. Wisi Zgraggen zieht am Röhrli den letzten Schluck Kaffee aus der Tasse. Er will nach den Tieren schauen. Fünfzig Mutterkühe liegen nebenan im Stall mit ihren Kälbern im Stroh.

Nach acht Operationen bekam er im Unispital Zürich Besuch vom Orthopäden. Der zeigte ihm, welche Prothesen ihm das Leben fortan vereinfachen sollten. Die ersten sahen aus wie normale Arme, alleine anziehen konnte er sich damit aber trotzdem nicht. Geschweige denn auf dem Hof anpacken. Sie taugten höchsten zum Spazieren, aber dafür brauchte er keine. Er gab auf. Als der Orthopäde im Hofladen einkaufen kam, lud Angelika ihn an den Mittagstisch. Angelika fütterte die Kinder. «Ich ass daneben wie ein Hund aus meinem Teller», erinnert sich Wisi Zgraggen.

Seither ist Orthopäde John Blasel sein privater Tüftler. Zuerst entwickelte er eine Manschette für den Stumpf, in der sich ganz leicht eine Gabel fixieren lässt. Jetzt übt Wisi Zgraggen mit der neuesten Entwicklung: «Das ist der Traktor unter den Prothesen.» Er bedient sie mit Bizeps und Trizeps. Mit einem Muskelzucken schaltet er vom Handgelenk zum Haken um. Damit kann er endlich wieder Dinge ergreifen – «und ich kann mich wieder kratzen».

Im Dezember 2002, zwei Monate nach dem Unfall, versteigerte Viehzüchter Alois Zgraggen seine 68 Milchkühe. So wie er es mit dem Sohn besprochen hatte, bevor der Heli kam. Im Frühling 2003 kaufte die Familie ein paar Dexter-Rinder. Robuste und agile Tiere, die ohne Zusatzfuttermittel auskommen und köstliches Fleisch liefern. Vor zwei Jahren übernahm Wisi Zgraggen den Hof in der fünften Generation.

«Sein und mein Wunsch ist in Erfüllung gegangen», sagt Alois, 67. Vater und Sohn sprechen nicht über den Unfall. Wisi schaut immer nur in die Zukunft. «Es ist zwei bis drei Jahre gegangen. Aber ich habe mir den Fehler verziehen», sagt er. Die Rundballenpresse klemmte. Er hantierte bei laufender Maschine, stolperte über seinen Schuhbändel, fiel und geriet in das Ungetüm mit achtzehn Walzen. Als der Vater kommt, raffelt das Gerät rechts schon an seinem Schulterblatt. Auf die Kommandos von Wisi muss er die Maschine immer wieder ein- und ausschalten – bis sie seinen Sohn loslässt. Bilder, die der Vater nicht mehr loswird: «Jedes Detail hat sich eingebrannt.» Der Vater ist nun bei Wisi angestellt. «Meine rechte und linke Hand», sagt er. Der junge Bauer hat den Hofladen umrüsten lassen, um ihn bedienen zu können. Er erledigt Administratives am Computer, oder er liefert im umgebauten Auto aus. Er produziert sogar wieder Rundballen – auf derselben Maschine. «Das war immer eine meiner liebsten Arbeiten», sagt Wisi Zgraggen. Angelika will ihm nichts verbieten. «Ohne den Hof ginge er kaputt.» Ihr Mann ist Invalide, mit Recht auf eine 100-prozentige Rente. Für Angelikas Aufwand gibts eine kleine Hilflosenentschädigung.

Nach den Operationen hatte sich Wisi Zgraggen Fotos von seinen beiden Armen zeigen lassen. «Es wäre nichts zu machen gewesen.» Zu Hause klärte er ab, ob für ihn eine Transplantation infrage käme. Wenn überhaupt möglich, hätte er sich aber für das Leben eines Kranken entscheiden müssen. Samt Tabletten und der Angst, die neuen Arme wieder abzustossen. Er entschied sich für sein Leben, das eines gesunden, handicapierten Mannes.

In den seltenen Momenten, in denen Wisi Zgraggen zurückblickt, kann er sogar Dankbarkeit verspüren: Zwei Jahre vor dem Unfall hatte er mit seinem Vater für ihre Familien noch das Wohnhaus neu gebaut, den grössten Teil eigenhändig. In der Meisterschule nahm man das Versicherungswesen durch. Der junge Familienvater beschloss, eine Invaliditätsversicherung abzuschliessen. Ein halbes Jahr bevor er beide Arme verlor, hatte er unterzeichnet. Sonst würde heute das Einkommen nicht genügen.

Leonie, Ivan, Reto und Thomas trinken Apfelsaft zum Znüni. «Im Dorf hat man den Kopf geschüttelt, als ich nach dem Unfall nochmals zweimal schwanger wurde», sagt Angelika. Aber sie liebe Kinder, den Trubel. Zgraggens sehen sich als ganz normale Familie. Sie fahren Ski und wandern. «Meine Kinder sollen Kinder sein dürfen wie alle anderen auch», sagt der Vater. Thomas, der älteste Sohn, habe manchmal Angst um ihn und frage: «Muss ich den Hof übernehmen?» «Ich will auf keinen Fall, dass sie sich sorgen. Ich habe mein Leben wieder im Griff.» Letzte Woche hat Wisi Zgraggen etwas getan, was er schon lange vorhatte. Er fuhr mit einem Korb voll Sachen aus dem eigenen Hofladen zur Rega-Basis in Erstfeld. Und bedankte sich.

Er wohnt in einem Weiler bei Frutigen. Trotzdem klingt die Musik von WILLIAM WHITE nach Karibik und nicht nach Kühen. Die Geschichte einer weiten Reise.

Auf der Suche nach Heimat hat er 7265 Kilometer zurückgelegt. Barbados– Schweiz einfach bitte. Im Inselparadies kommt William White 1972 zur Welt, als Sohn einer Stanserin und eines karibischen Farmers. Die Mutter hört Beethoven, der Vater liebt die Stille – der kleine William vergöttert Bob Marley, spielt Gitarre. Mit 19 Jahren zieht er in die Schweiz, um die Heimat seiner Mutter kennenzulernen und um zu studieren. Naturwissenschaften. Doch das Leben hat nach ein paar Semestern an der ETH etwas anderes vor mit ihm.

Am Sonnenhang oberhalb von Frutigen BE kleben eine Handvoll Bauernhäuser und ein verlassenes Schulhaus, in dem William White mit seiner Familie wohnt. Im umgebauten Zirkuswagen auf dem Pausenplatz hat er seine dritte CD aufgenommen. «Freedom» – Freiheit. Für ihn das wichtigste Gut. Dafür hat er sich ein eigenes Tonstudio gebaut. Und um sich nicht dem Geschmack eines Plattenlabels beugen zu müssen, ist William White seine eigene Familienfirma. Seine Songs klingen nach Sandstrand und Surferfeeling – obwohl sie hier oben in Ried, 1300 Meter über Meer, produziert werden. Es war ein Besuch bei Freunden, bei dem er und seine Frau sich ins Kandertal verliebten. Galia, 32, hat er vor zehn Jahren kennengelernt. Die Westschweizerin sah ihn auf einer Bühne am Stadtfest von Lausanne singen. Es war nicht nur seine Stimme, die ihr gefiel. Heute ist sie seine Frau und seine Managerin. «Williams erstes Album habe ich in die halbe Welt verschickt.»

Familie White lebt von der Musik. Von den Konzerteintritten und natürlich von den CDs – ohne die Einnahmen mit einem Plattenlabel teilen zu müssen. Was reinkommt, reicht zum Leben und sogar noch dazu, um etwas zu sparen. Existenzangst hat William White nicht. «Man muss nur etwas Lifestyle aufgeben, um sich weniger zu sorgen.»

Vor zwei Jahren sind Galia und William von Winterthur nach Ried gezogen. Weg vom Konsum, rein ins Abenteuer. Vor allem ihrer Kinder wegen. Der vierjährige Lou kann hier aufs Schlagzeug hämmern, so laut er will. Und mit seiner Schwester Noa, 9, ums Schulhaus jagen, bis die Kühe glotzen. Williams lange Suche nach der «bestmöglichen Lebensform» war erfolgreich. Das Paar ist sich einig: «Wir haben hier oben erstmals unsere Ruhe gefunden.» Am liebsten würde er sogar seinen Strom selbst produzieren. Im Garten baut er Gemüse und Kräuter an – und zieht Margeriten. «Immer wenn ich sie zurechtschneide, denke ich an meine Mutter», sagt William White. Sie lebt noch immer 7265 Kilometer weit entfernt. An die Distanz gewöhnt man sich nie. Aber ein Leben auf Barbados kann er sich nicht mehr vorstellen. Der Tourismus, der alles aushöhlt, die Güter, die alle importiert werden müssen – und sowieso: diese Abhängigkeit von den USA … Für einen wie William White ist das kein Paradies.

Frutiger Dialekt hat sich eingeschlichen. Familie Whites Exotenstatus im Tal hebt das nicht auf. Dafür reicht nicht einmal ihr Daihatsu 4 × 4, den hier auch jeder zweite Bauer fährt. Bald muss Galia wieder Schneeketten montieren. Einen letzten Winter lang, denn sie hat William überredet, hinunter nach Frutigen zu ziehen. «Ich würde gerne hier bleiben.» Aber für Galia wirds viel einfacher, wenn die Kinder zu Fuss zur Schule können. Kommenden Frühling wartet ein Bauernhaus auf sie. Neues Heim in der gefundenen Heimat. Vorerst zur Miete. Es eines Tages kaufen zu können, ist noch ein Traum. Das muss warten können, genauso wie die Ziegen, die Galia gerne anschaffen möchte, und der Hund, um den Lou und Noa täglich betteln. Mit dem Ersparten gehts vor dem Umzug nach Barbados. Zu Grossvater Hal und Grossmutter Margrit. Schweiz–Barbados retour bitte.

In einem Dokumentarfilm erobern «DIE KINDER VOM NAPF» zurzeit die Kinos. Im Alltag gehen die kleinen Leinwandhelden gern auf Mäusejagd. Vor Kurzem sassen sie erstmals im Flugzeug – an die Berlinale.

Eine BMW-Limousine wartet auf die kleine Gruppe aus der Schweiz und chauffiert sie vom Flughafen Berlin direkt zum roten Teppich. «Zwei Männer haben die Autotüren aufgemacht, und alle haben fotografiert!», sagt Thomas, 12. Und dann geht es in den Kinosaal, dorthin, wo «ihr» Film gezeigt wird. Viermal insgesamt, einmal sogar vor 1500 Zuschauern. Als er zu Ende ist, gehen Thomas, Carolin, 11, Julia, 9, und Laura, 8, auf die Bühne und beantworten Fragen. «Ein Bub wollte wissen, wie wir die Berge im Hintergrund gemacht haben», erzählt Carolin kopfschüttelnd. Unglaublich, dass einer denkt, ihren Napf gebe es gar nicht. Als könne man ihre Heimat am Computer zeichnen.

Der Napf ist Unesco-Biosphäre. Oder wie die vielfach preisgekrönte Filmemacherin Alice Schmid, 60, sagt: «Eine Landschaft mit runden Hügeln, schön wie Brüste.» Ihr Dokumentarfilm «Die Kinder vom Napf» rührt das Publikum in der Schweiz und erobert eines der wichtigsten europäischen Filmfestivals, die Berlinale. 365 Tage lang hat sie die fünfzig Bergbauernkinder mit der Kamera begleitet. Ohne Drehbuch. Dafür auf Augenhöhe.

Nur das blaue Bähnli führt über die 200 Meter tiefe Goldbachschlucht, jahrein, jahraus, von der Breitäbnet runter nach Romoos. Sitzen Carolin und ihre kleine Schwester Julia in der kleinen Gondel, seilt Nachbar Fritz sie hinunter. Die Mädchen müssen still sitzen, dürfen nicht aufstehen, nicht wanken und schon gar nicht die Tür aufmachen. Bei der Talstation wartet der Schulbus – hell wird es erst, wenn die Kinder das einzige Schulhaus erreichen, das in Romoos LU noch in Betrieb ist. Bilder aus dem 87-minütigen Film, den Alice Schmid aus 400 Stunden Filmmaterial zusammengeschnitten hat. Ein einjähriger Prozess, erst mit der zwölften Version ist sie zufrieden. Sie will das Leben der Bergbauernkinder so authentisch wie möglich darstellen, kein verklärtes oder idealisiertes Bild zeichnen. «Das Leben im Napf bietet trotz aller ländlichen Idylle keine Traumkindheit», sagt die Filmemacherin.

Vor der Klasse erzählt Thomas von seinem Locher. Damit stanzt er keine Löcher in Papier, sondern Mäuse aus dem Boden. «Letztes Jahr habe ich 120 gefangen. Papi gibt mir 50 Rappen pro Maus.» Die Viecher fressen ihnen sonst die Wurzeln der jungen Apfelbäume ab. Die Natur. Jäger, Gejagte. Geburt und Metzgete: Das ist Alltag für die Kinder vom Napf. Sie wissen, wie man die Hühner vor dem Habicht schützt. Im Schulzimmer ist auch der Wolf ein Thema. Die Kinder wissen, dass der Räuber sich nicht mit einem Schaf zufriedengibt, lieber beisst er gleich aus mehreren ein Stück. Nach der Schule wartet die Arbeit auf dem Hof. Heuen, Hühner misten, Kälber tränken.

In Berlin logieren die Bergbauernkinder im Hotel Maritim. Fünf Sterne. Und Hallenbad. «Am Tisch haben die uns die Stühle weggezogen!» Carolin macht beim Frühstück ihre ganz eigene Erfahrung mit dem Luxus-Service. Ihr geht die Nutella aus. Wieder zurück am Tisch, fehlt ihr Teller samt angebissenem Weggli! Bevor sie sich wieder zum Buffet aufmacht, sagt sie zu ihrer Schwester: «Ich hol noch ein Weggli. Pass mir ja auf meine Nutella auf!» Diese grossen, hohen Betten, so viele Spiegel im Badezimmer und der grosse Fernseher: Laura ist so fasziniert vom Hotel, dass sie die Schlüsselkarten zu ihrem Zimmer nach den vier Tagen gleich einpackt. Vielleicht kommt sie ja wieder, wenn sie Star wird anstatt Bäckerin.

Mit sechzehn Jahren entdeckt Alice Schmid ihre Liebe zum Napf. Sie mietet ein lottriges Bauernhaus. Für 80 Franken im Jahr. Dreissig Jahre dreht sie Dokumentarfilme auf der ganzen Welt. Nach ihren Reisen fährt sie jeweils direkt in den Napf. Der Wunsch, hier oben zu drehen, wird immer grösser. «Dieser Film ist mein Lebenswerk», sagt sie. Ihre Stadtwohnung am Zürcher Paradeplatz hat sie nach dreissig Jahren aufgegeben und sich im ausgemusterten Schulhaus Chrummatt in Romoos eingerichtet. Für die Reise an die Berlinale sitzen Thomas und die drei Mädchen zum ersten Mal im Flugzeug. Die Berge plötzlich unter sich. Die Häuser klein wie Läuse. Laura und Julia tauschen immer wieder den Sitz, um hinunterzusehen. Dann die Landung in der Betonstadt, wo Thomas’ Locher gar nicht funktioniert – aber mitgenommen hat er ihn.

Jetzt hat der Schulalltag die Kinder vom Napf wieder. Laura, Carolin, Julia und Thomas sind von so viel Blitzlichtgewitter noch etwas von der Rolle. Und von so viel Berühmtheit. Schliesslich haben sie jetzt auch in Deutschland Fans. Julia: «So berühmt, wie wir jetzt sind, ist okay.» Carolin: «Ja, nur ja nicht so wie Michael Jackson!» Thomas: «Doch, das wär doch cool!»

In der Stadt möchte Julia nie leben. «Wenn ich dort das Apfelmus zum Abkalten vors Fenster stellen würde, könnte es ja jeder nehmen.» Lieber wohnt sie auf der Breitäbnet mit Sicht über den Napf. Heim gehts im blauen Bähnli. Carolin und Julia nehmen Platz. Drehen an der Kurbel und werden dann am Telefon verbunden mit Fritz. Der fragt: «Chöimer fahre?» Die Mädchen bejahen, dann ruckelt die Gondel aus der Station und schwebt hoch über der Goldbachschlucht nach Hause. In ihr Paradies. Nutella gibts schliesslich auch im Napf.

Bei ihrem Ausflug in die Toskana werden MONIKA und MARTIN MATTER Eltern. Zu Hause in Appenzell Innerrhoden folgt die grosse Überraschung: Bis das Zivilstandsamt die kleine MARIA registrieren wird, bekommt sie vielleicht längst die AHV.

Schriftart Comic. Das Computer-Filzstiftgekritzel, mit dem billige Restaurants ihre Menükarten tippen. 40-Jährige wählen die Schrift auch gerne für ihre Geburtstagsfeier – wirkt schliesslich lässig, jung, hip. Nur nicht seriös. Maria Matter hat das Pech, dass das Spital, in dem sie am 15. Oktober das Licht der Welt erblickte, ihren Geburtsschein in Comic-Lettern ausstellte. Dabei hätte sie dicke fette Beamtenbuchstaben nötig. Arial vielleicht. Denn in der Schweiz ist Maria inexistent. Identitätslos. Eine Sans-Papier mit Schweizer Eltern. Monika, 33, Marketingfachfrau, und Martin Matter, 41, Beratungsunternehmer. Verheiratet. Sportlich. Unternehmungslustig. Wären sie zu Hause geblieben, bekämen sie nun Kinderzulagen. Aber vorderhand können sie sich nicht mal als Eltern ihrer Tochter ausweisen.

Es ist Donnerstag, der 13. Oktober 2011. Monika Matter kann die Geburt ihres ersten Kindes kaum erwarten. Sie ist so auf den Termin fixiert, dass ihr Mann sie etwas ablenken will: «Schatz, wenn das Baby jetzt nicht kommt, fahren wir nochmals in die Toskana.» Die beiden lieben die Sonne, das gute Essen. Die Hebamme sagt, es dauere sicher noch ein bis zwei Wochen. So fährt das Paar zu einem letzten Wochenende Zweisamkeit. Ein romantischer Znacht, ein Zimmer in einem schönen Agriturismo. Um Mitternacht setzen die Wehen ein. Zum Glück hat Martin Matter die Adresse des nächsten Spitals aufgeschrieben. Er fährt seine Frau in die Notaufnahme des Ospedale Misericordia e Dolce in Prato. Barmherzigkeit und Süsse: Zwei Stunden später ist die kleine Maria da. Ihre Mutter erlebt nach einer unkomplizierten Schwangerschaft eine leichte Geburt. Der stolze Vater dokumentiert alles mit seiner Digitalkamera.

«Wir müssen Ihnen mitteilen, dass wir die Geburt Ihrer Tochter nur aufgrund einer offiziellen Geburtsurkunde in der Schweiz eintragen lassen können», schreibt der Kanton Aargau am 28. November. Die Schweizer Botschaft in Rom hat inzwischen eine Liste mit italienischen Anwälten geschickt, mit den Worten: «Leider ist nun die Angelegenheit schon auf einer Ebene, wo auch wir nicht mehr helfen können.» Über 60 Briefe und E-Mails hat das Ehepaar Matter schon verschickt. An die Wohngemeinde Oberegg, an den Wohnkanton Appenzell Innerrhoden, den Heimatort Kölliken, den Heimatkanton Aargau. Aber der Geburtsschein Schriftart Comic wird nirgends akzeptiert. Die Ärztin im Spital hatte noch gefragt: «Melden Sie das Kind selbst an?» Welche Formulare, wie viele Passkopien: Mit einer solchen Touristengeburt wisse man nicht so recht, wie umgehen. Matters sagten natürlich Ja. Weshalb auch ein italienisches Spital damit beauftragen, das eigene Kind zu Hause in Appenzell Innerrhoden anzumelden?

49 Zentimeter klein, 3170 Gramm leicht. Fünf Stunden nach der Geburt wird die kleine Maria aus dem Spital entlassen. Die Eltern bekommen ein Kleidchen und Windeln für sie geschenkt. Auf die Frage nach der Rechnung heisst es: Dies ist ein öffentliches Spital, Geburten sind kostenlos. Martin und Monika Matter kaufen Schokolade für das Pflegeteam und ein Maxicosi für Maria. Am Freitag zu zweit in Prato angekommen, gehts am Samstag zu dritt in die Schweiz zurück. Am Montag will der Vater seine Tochter in Oberegg anmelden. Während eine Behörde nach der andern sagt, sie sei nicht zuständig, läuft in Prato eine wichtige Frist ab. Zehn Tage haben Eltern in Italien Zeit, ihr Kind auf dem Zivilstandsamt des Geburtsorts registrieren zu lassen. Nur so bekommen sie einen rechtsgültigen Geburtsschein. Aber wie jetzt um Himmels willen in die Toskana fahren? Maria hat keine Papiere. Monika stillt. Martin arbeitet.

Inzwischen sind sieben Wochen vergangen. Die Staatsanwaltschaft hat das regionale Jugendschutzgericht eingeschaltet. Das haben Matters von der Schweizer Botschaft erfahren. Sie wollen noch keinen Anwalt einschalten. «Wir können zu wenig Italienisch, um ihm den Sachverhalt zu erklären. Wir hoffen noch immer auf ein Wunder.» Zurzeit wissen sie nicht einmal, ob ihr Fall bearbeitet wird oder vorerst auf einem Aktenberg ruht. Abhängig von der Arbeitsmoral eines italienischen Gerichts, haben Matters in ihrer Sorge um die Zukunft ihrer Tochter nun den Schweizer Behörden angeboten, mittels DNA-Test zu beweisen, dass sie und Maria eine Familie sind. Doch für den Gentest fehlt es an der nötigen Rechtsgrundlage (siehe Interview). Die nächsten Monate, wenn nicht Jahre, werden die Eltern dankbar sein, dass sie die Niederkunft so ambitioniert fotografiert haben. Die Fotos könnten helfen, dass die Aufsichtsbehörde des Kantons Aargau aus dem süssen Bébé Sans-Papier endlich eine provisorisch registrierte Schweizerin macht. Mit Recht auf Kinderzulagen, Krankenversicherung, Pass, Einschulung und AHV. So lange, bis das italienische Gericht das Papier in Comic-Schrift amtlich beglaubigt. Am besten in Arial fett.